Mavic Mektronic Schaltung

Elektronische Rennradschaltung
Tour 6/99

Ritzel-Handy

Bowdenzug, adieu: Mavics Mektronic- Schaltung hört auf Funksignale vom Lenker. Tour hat sich durch die Gänge gezappt und weiß nach 25.000 Testkilometern, was die neue Schaltung kann. Hier steht's.                                   Text/Fotos: Robert Kühnen

 Der Mann hat ein Faible für Elektronik, ein Gespür für zukunftsträchtige Technik und er hat Mumm: Michel Kubacsi der Entwickler der Mektronic hat alles auf eine Karte gesetzt. Nachdem Mavics erster Versuch einer elektronischen Schaltung, das 1993 vorgestellte ZAP System, im wahrsten Sinne des Wortes baden ging (Dichtigkeitsproblem mit der Verkabelung), hatte sich der Ingenieur in den Kopf gesetzt, das System wiederzubeleben, diesmal jedoch auf der Basis einer Funksteuerung. Funk - das klingt nicht gerade nach der einfachsten und zuverlässigsten Lösung, aber Funk geht eben nicht baden und sollte endgültig mit den Kabelproblemen aufräumen.

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Im leicht welligen Terrain und mit einem feingestuften Shimano-Neunfach RitzeIpaket unterwegs (Campa Ritzelabstände passen nicht), nimmt die Schaltfrequenz gegenüber herkömmlichen Schaltungen weiter zu. Besonders in der Bremsgriffhaltung fliegen die Gänge nur so hin und her, weil die Schaltung so leicht zu betätigen ist. Die „Tiptronik“ schaltet mühelos, akkurat und schnell. Aber natürlich erfordert das System eine gewisse Eingewöhnung. Wie geht es rauf oder runter? Zwar sind alle Schalter logisch ein wandfrei belegt, aber trotzdem bringt der Mektronic-Neuling die Schaltrichtung schon einmal durcheinander Auch das Schalt-Timing muß neu erlernt werden. Im richtigen Moment im Wiegetritt den Druck wegzunehmen, damit der Schaltvorgang glatt vonstatten geht -auch das gelingt am Anfang nicht immer. Wichtig: Geschaltet wird nur, wenn sich die Kette dreht, und zwar um so schneller, je schneller die Kette läuft. Allerdings merkt sich die Schal tung auch im Leerlauf gegebene Schaltimpulse und führt diese aus, so bald die Kette sich wieder dreht.

Kontrollorgan: Schalten und Bremsen ist aus allen Positionen optimal möglich

Perfekte Ergonomie

Schon vor dem offiziellen Produktionsbeginn hat ein Feature der neuen Schaltung für mächtigen Ärger gesorgt. Die aus den Griffkörpern der Bremsschaltgriffe herausgeformten Mini-Hörnchen sind bei den Verantwortlichen des Weltverbandes UCI nicht auf Gnade gestoßen und wurden nach einem halben Jahr Bedenkzeit mit einem Bann belegt. Mavic griff daraufhin zur Säge und entfernte die unerwünschten Griffe an den Rädern der gesponserten Profi-Teams. So kommt es, daß die Profis verpassen, was Freizeitfahrer lieben werden: eine neue, ergonomisch ausgefeilte Sitzposition. Denn wer die Mektronic bei den Hörnern packt, sitzt nicht nur aerodynamisch günstig und bremsbereit auf dem Rad, er bekommt ein völlig neues, joystickartiges Schaltgefühl vermittelt: Das Horn des rechten Schaltgriffs mündet in eine perfekt bedienbare Schaltwippe. Gleichzeitig bieten die Hörner ein Widerlager, um ordentlich Druck machen zu können. Womit wir schon mitten in der Testfahrt sind.

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einem vom Leitrad angetriebenen Pleuel verzahnen. Diese patentierte Technik sorgt dafür, daß die elektronisch-mechanische Schaltung mit verhältnismäßig wenig Strom auskommt. Eine Drei Volt-Knopfzelle genügt, um das. Schaltwerk mit Strom zu versorgen.
Doch was kann dieses System, das andere Schaltungen nicht können? Wie schon bei ZAP liegt die wesentliche Stärke darin, mühelos und schnell von verschiedenen Positionen am Lenker aus schalten zu können. Damit ist der Fahrer in jeder Fahrsituation schaltbereit: am Ober-, am Unterlenker und in der Bremsgriffhaltung. Mit einem zusätzlichen Triathlon-Kit sind auch weitere Schaltpositionen realisierbar. Ein weiterer Vorteil. Der Schwachpunkt herkömmlicher Schaltungen, der reibungsanfällige Bowdenzug, entfällt. Damit ist auch die Störursache Nummer eins für perfekte Schaltvorgänge eliminiert. Denn bei der Mektronic gibt die Mechanik im Schaltwerkskörper die Rastschritte präzise vor.

Vorsicht Elekrtosmog

Die Erstmontage der Schaltung ist einfach und erlaubt erste Einblicke in die Finessen des Systems. Eine elektrische Kabelverbindung besteht lediglich zwischen dem rechten Bremsschaltgriff und dem zentralen Computer, der Fahrradcomputer, Ganganzeige, Schalt- und Funkzentrale in einem ist. Die Kommunikation mit dem Geschwindigkeitssensor an der Gabel erfolgt drahtlos.
Zum Initialisieren des Systems rät Paul Didier, Mavics Service-Trainer, einen „sauberen“ Raum aufzusuchen. Mit sauber meint Didier jedoch keinnen gut gefegten Raum, sondern einen, in dem keine starken elektromagnetischen Felder zu finden sind (zum Beispiel durch Fernseher). Die könnten nämlich stören, wenn Schaltwerk, Computer und Geschwindigkeitssensor beim Setup zum ersten Mal miteinander telefonieren. Telefonieren? Jawohl. Wie beim Gespräch mit dem Handy muß man sich laut Mavic die digitale Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen des Systems vorstellen. Und damit in einem größeren Fahrerfeld nur die zugehörigen Schalter und Schaltwerke aufeinander hören, bekommen diese beim Setup zueinander gehörende Nummern zugewiesen, mit denen sie sich später gegenseitig identifizieren.
In einem wesentlichen Punkt hat Mavic jedoch einen Fehler von ZAP übernommen. So fortschrittlich die Kommunikation mit dem hinteren Schaltwerk ist, so primitiv ist sie mit dem Umwerfer -egal, von welchem Hersteller dieser stammt. An der Innenseite des linken Bremsgriffes befindet sich ein Schalthebel, der einfach per Reibschluß funktioniert -keine Rasterung, keine Entlastungsfeder, ein einfacher Friktionshebel, wie er vor Jahren schon ausstarb.

Minimaler Stromverbrauch

Der Name deutet es an Mechanik und Elektronik gehen bei der Mektronic Hand in Hand. Das geniale Funktionsprinzip der ZAP-Schaltung wurde aufgegriffen, um den Stromverbrauch der elektronischen Schaltung zu minimieren. Und das geht so: Die Kraft, die benötigt wird, um das Schaltwerk zu bewegen, wird via Leitrolle aus der Kette abgezweigt - also vom Fahrer aufgebracht. Strom verbrauchen so nur zwei kleine Magnetschalter im Schaltwerk, die sich beim Schalten mit

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Kubacsis Engagement hat sich jedenfalls gelohnt: Nach erfolgreicher Umsetzung des Mektronic Projektes ist er zum Gesamt-Leiter von Mavic aufgestiegen.

Die Schaltwippe auf der Innenseite des Bremsgriffs ist ergonomisch nicht so fein wie die beiden anderen Schalter. Hier ist die Gefahr am größten, daß man sie versehentlich bedient. Die größten Probleme bereitet allerdings das Überschalten mehrerer Gänge. ln Richtung kleiner Ritzel geht es nur Schritt für Schritt, wobei die Schaltung jedoch bis zu dreimal blitzschnell hintereinander erfolgtes Tastendrücken nacheinander in Schaltschritte umsetzt. Beim Schalten auf größere Ritzel gibt es die Option, die Schalter länger zu drücken; so kann man bis zu zwei Gänge überspringen. Das dauert jedoch länger als der mechanische Wechsel bei Shimano oder Campa.
Und vorne? Der Umwerfer läßt sich aus der Bremsgriffposition heraus leidlich bedienen, vom Unterlenker aus kaum. Keine Frage: Am stärksten ist die Mektronic,

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wenn man nur mir einem Blatt fährt, was bei den Profis ja auch (meistens) der Fall ist. Zur Bremsfunktion: Die Griffe sind kompatibel mit Shimano- und Campa- Bremsen (Entspannfunktion im Griff integriert). Das geringe Übersetzungsverhältnis führt die Klötze zunächst schnell an die Felge, dann nimmt der Seileinholweg ab und die Übersetzung etwas zu. Da die Mektronic-Hebel aber nicht das Übersetzungsverhältnis der Shimano-Griffe erreichen, ist mehr Handkraft für eine Vollbremsung nötig. Dennoch haben Mavics Griffe Vorteile: Bei entsprechender Handkraft bieten sie mehr Reserven, denn der Hebel schlägt nicht am Lenker an. Auch von Vorteil ist der Knick im Bremsgriff, der aus der Bremsgriffhaltung heraus einen besseren Zugriff bietet als herkömmliche Hebel. Fazit: Ergonomisch sind die Griffe bis auf die Umwerferbedienung top.

High-Tech: digitales funkgesteuertes Schalt- werk mit minimalem Energieverbrauch

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Low-Tech: der linke Schaltgriff betätigt den Umwerfer nur rein mechanisch

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So funktioniert die Schaltung:

Um mit einem Minimum an Strom auszukommen, wird die eigentliche Kraft zur Bewegung des Schaltwerkes vom Fahrer erzeugt: Die obere Leitrolle des Schaltwerkes treibt den Pleuel an, der innerhalb des Schaltarmes hin und herflitzt. Der Schaltarm wiederum ist verschiebbar zum Schaltungskörper gelagert und trägt die Raststufen für die Schaltschritte. Kommt per Funk ein Schaltbefehl, dann verzahnt einer der Magnetschalter den Schaltungskörper mit dem Pleuel und zwingt den Schaltarm zum Ausweichen: so wird der Gang gewechselt

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Zwei Jahre Dauerbetrieb

Ein paar hundert Testkilometer geben einen guten Eindruck von der Funktionsweise des Elektronik-Getriebes, über die Dauerhaltbarkeit und den Stromverbrauch ist so jedoch nichts zu erfahren. Deshalb hat TOUR einen Laborversuch realisiert, mit dem das Getriebe vollautomatisch und computerkontrolliert Tag und Nacht in Betrieb gehalten werden kann. Stündlich fallender Laborregen setzt der Schaltung dabei zusätzlich zu und stellt die Dichtungen auf die Probe. Das Ergebnis der Dauerprüfung kann sich sehen lassen: Im ersten Durchgang zeigt die Diagnosefunktion des Mektronic- Bordcomputers nach knapp 20.000 Schaltvorgängen (gleich 10.000 bis 20.000 Kilometern) das K.o. für die Batterie im Schaltwerk an, Gehäuse und Schalter

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Mit dieser Versuchsanordnung wurde der Schalter am Bremsgriff 55.000 mal betätigt - ohne Probleme

hielten dicht. Die zweite Schaltwerks- batterie (Knopfzelle, ca. 10 Mark) hält länger: 34.985 Schaltvorgänge regis- triert die TOUR-Meßtechnik. Auch die Batterien des Mektronic-Computers sind nach den insgesamt 55.000 Schaltzyklen leer. Damit ist nachge- wiesen, daß die Mektronic wahrlich kein Stromfresser ist! Laut Mavic ist bei einer niedrigeren Schaltfrequenz als der von TOUR benutzten (alle drei Sekun- den ein Schaltschritt) mit einer längeren Lebensdauer zu rechnen, weil die Batterien dann weniger stark bean- sprucht werden. Und falls doch einmal der Strom ausfallen sollte: Das Schaltwerk läßt sich auch von Hand bewegen und unter einem beliebigen  Ritzel positionieren, der Nachhauseweg ist somit sicher. Bleibt noch zu erwähnen, daß der elektrische Schalter im Bremsgriff den Dauerbetrieb auch klaglos weggesteckt hat

Informationstechnologie am Bike

Ohne Frage ist Mavic mit der Mektronic ein großer Wurf gelungen. Die auf den ersten Blick verwegene Funklösung ist auf den zweiten nur konsequent und sehr voraus- schauend: Mavic beschreitet als erster Hersteller mechanischer Fahrradkomponenten den Weg Richtung Informationstechnologie, deren wesentliches Merkmal vernetzte, selbständige Funktionseinheiten sind, die man simpel austauschen kann. Nachdem die prinzipielle Funktionsfähigkeit mit der Schaltung nachgewiesen ist, sind viele weitere, spannende Funktionen für die Zukunft denkbar: vom elektrischen Umwerfer über elektronisches ABS und integrierte Leistungsmessung bis hin zur Navigationshilfe und der aktiven Fahrwerksregelung. Ritzel, Kette und vergossener Schweiß mögen bleiben, das Fahrrad rüstet sich dennoch für das Informationszeitalter.

Fakten zur Mektronic:

  • Gewicht linker / rechter Griff: 212 / 186 g, Schaltwerk: 246 g, Computer: 60 g

Testrad: Principia rs6; Gr. M; mit Mavic Mektronic im Laden

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